Gerhart Hauptmanns "Biberpelz" in einer Version von Marc Wortel
Kein Wunder, möchte man sagen, denn der Regisseur hat einen richtig guten Theaterabend auf die Bühne gebracht, der zurückführt zu den eigentlichen Wurzeln der Schauspielkunst. Technischer Schnickschnack? Ein opulentes Bühnenbild? Das alles sucht man in Wortels Version des Stücks um die Not der armen Bevölkerungsschichten und den Diebstahl eines Biberpelzes vergeblich.
Ausstatter Donald Becker schickt die Schauspieler auf eine fast leere Rampe, die bloß von funktionalen Kulissen wie einer Rückwand mit einem überdimensionierten und mit Leuchtaugen versehen Nager und einer großen Zielscheibe, deren Funktion sich nicht unmittelbar erschließt, versehen ist.

Hut ab vor den Schauspielern, die ihren Raum hervorragend nutzen

Ein paar Gegenstände zur Ausstaffierung der Wohnung von Familie Wolff, eine Guillotine für den Amtmann - mehr Kulisse ist nicht wirklich.

Anders sieht es da schon bei Beckers Kostümen aus, die die zeitgenössische Garderobe des 1893 uraufgeführten Stückes nachempfinden. Und beim atmosphärischen Spiel mit Licht und Schatten unter der Leitung von Albrecht Rau und der Maske unter der Leitung von Grit Anders, die den Protagonisten schrille Gesichtsfarben verpasst, was die ironische Skurrilität noch steigert. Kurzum, eine schlichte und funktionale Bühne, die dank Licht und Maskerade atmosphärisch ordentlich aufgeladen ist: Das gibt den Schauspielern großen Raum zur Entfaltung. Sie wissen ihn wirklich famos zu nutzen.

Allen voran Christine Reinhardt, die eine verschlagene Mutter Wolffen spielt. Kein Wässerchen kann diese Frau trüben, dabei hat sie es, quasi aus der Not der ärmlichen Verhältnisse heraus, wirklich faustdick hinter den Ohren. Vor praktisch keinem Diebstahl schreckt sie zurück, und es ist beeindruckend zu erleben, wie es Reinhardt gelingt, die verbrecherischen Seiten der Hausmutter hinter einer Fassade von Wohlanständigkeit zu verbergen.

Hut ab, auch vor Sebastian Muskalla, der als Amtsvorsteher Baron von Wehrhahn lautstark schwadronierend durch die Szenerie poltert und in seiner lächerlichen Weltfremdheit ein ums andere Mal die Lacher auf seiner Seite hat. Das macht richtig viel Spaß, denn Muskalla, der in Intendant Matthais Faltz Version von Gogols "Revisor" eine sehr ähnliche Figur spielt, ist diese Rolle praktisch auf den Leib geschrieben.

Eine tiefe Verbeugung auch vor Thomas Streibig, der einen höchst streitbaren und unausstehlichen Rentier Krüger auf die Bühne bringt, und vor Jürgen H. Keuchel als Julius Wolff. Wie gewohnt strahlt der gestandene Keuchel eine massive Präsenz aus, die dem Familienvater eine Art Zwiespältigkeit einschreibt.

Das Ensemble lässt es auf der Bühne am Schwanhof so richtig krachen

Zum einen ist er das ruppige Familienoberhaupt mit Herrschaftsanspruch. Das zum anderen aber unter der Fuchtel der Frau des Hauses steht, und Keuchel bringt diesen Pantoffelhelden in Patriarchenmaskerade wirklich gut rüber - das Durchsetzen, auch gegenüber Sohn Leon, den Ogün Derendeli gekonnt als verhätscheltes Bübchen gibt, haut nicht so richtig hin.

Besonders schrille und gerade deshalb gelungene Auftritte haben Julia Glasewald als völlig abgedrehte Wolff-Tochter Adelheid, Johannes Hubert als verklemmter Dr. Fleischer und Thomas Huth als zutiefst gechillter Hehler und Schiffer Wulkow. Genau wie Derendeli, der auch den Amtsschreiber Glasenapp gibt, spielt Johannes Hubert eine Doppelrolle und taucht gemeinsam mit Tobias M. Walter auch als ein Teil des Gespanns der durchtriebenen Motes-Brüder auf. Fabian Baumgarten als Amtsdiener Mitteldorf rundet die exquisite Leistung des gesamten Ensembles ab.

Damit zum Fazit: Wortel hat eine schwungvolle und höchst unterhaltsame Biberpelz-Version auf die Bühne gebracht, gerade weil er auf Ausstattungsdominanz und Firlefanz verzichtet und seinen Schauspielern freien Lauf lässt. Die danken das mit hervorragenden Leistungen und lassen es auf der Schwanhofbühne - übrigens ganz im Sinne Gerhart Hauptmanns - mal so richtig krachen und kräftig menscheln. Prädikat: höchst sehenswert. Weitere Aufführungen am 14. November und 28. Dezember um 19.30 Uhr und am 31. Dezember um 16 und um 20 Uhr.

STEPHAN SCHOLZ



Oberhessische Presse vom 28.10.13

Erschienen am 28.10.2013 auf www.Marburg-News.de


Schein und Sein


Obrigskeits-Satire »Der Biberpelz«


Auch bei Klassikern ist man vor Überraschungen nicht gefeit. Die Premiere von Gerhart Hauptmanns "Der Biberpelz - eine Diebskomödie" am Samstag (25. Oktober) auf der Bühne des Hessischen Landestheaters Marburg geriet zu einer Sozialsatire in schönster Comic-Ästhetik.

Die früher viel gespielte Komödie von 1893 schildert das von Diebstählen geprägte Zusammenleben von Armen und Reichen im damaligen Speckgürtel Berlins. Zugleich ist das Stück eine Satire auf den Übereifer vaterländischer Amtsinhaber, überall Subversion und Terroristen zu "riechen" und darüber ihre grundlegenden Aufgaben zu vernachlässigen.

Regisseur Marc Wortel zeigte einmal mehr eine sichere Hand, die Schauspieler zu dirigieren. Die zweistündige Inszenierung - inklusive einer 20-mitigen Pause - bot eine unterhaltsame, leichte Komödie, die in den satirischen Partien allerdings deutlich ins Karikaturhafte überzeichnete. Beim Betreten des Theatersaals wurde man annehmlich überrascht vom Ensemblemitglied Julia Glasewald, die als Cabaret-Tänzerin zum Song-Looping "Blue Velvet" anmutige Bewegungen vorführte. Dieser bsche Regie-Einfall nahm den Anspruch der Inszenierung vorweg, vor allem Kurzweil zu vermitteln.


Ogün Derendeli als Muttersöhnchen Leon Wolff verhalf dem Stück zu einem starken Einstieg, so dadaistisch wirkte seine Kostümierung und Rollenpräsenz zunächst. In seiner zweiten Rolle als Amtsschreiber Glasenapp war er nur ein stummer Schleppenträger und für das Tschingderassabumm zuständig.


Herausragend spielte Christine Reinhardt als verschlagene Mutter Wolff. Es machte großen Spaß, ihr zuzuschauen, wie sie perfekt im schlesischen Dialekt und mit gekonntem Habitus alle Register zog.


Die zweite Hauptrolle füllte Sebastian Muskalla als Amtsvorsteher von Wehrhahn mit Bravour. Obschon seine von Ehrgeiz und Eitelkeit protzenden Auftritte durchaus zum Lachen reizten, geriet durch die Überzeichnung das Ganze etwas aus der Balance.

Für die notwendige Erdung sorgte Thomas Streibig als bestohlener wohlhabender rger Krüger. Mit viel Gespür für Zwischentöne eroberte der Altstar der Marburger Bühne sich eine Art dritte Hauptrolle.


Die undankbare Rolle des von allen missachteten Amtsdieners Mitteldorf spielte Fabian Baumgarten als träumender Pierrot mit roter Clownsnase. Seine Bewegungsstudien und sein "Somewhere-over-the-Rainbow"-Auftritt fielen positiv auf.


Die weiteren fünf Darsteller zeigten alle eine solide Leistung. Sie hatten aber alle nur eher kleine Nebenrollen, die das soziale Milieu in der Provinz des wilhelminischen Deutschlands illustrierten. Die eigentliche Glanzleistung dieser Inszenierung vollbrachte indes der Ausstatter Donald Becker. Die von ihm konzipierten Kostüme samt maskenhafter Schminke hatten große Klasse.

Sein Bühnenbild - etwa die tollen Fährmannsruder und die großartige, ausklappbare Amtsstube des Barons von Wehrhahn - strotzte vor guten Ideen. Diesen kreativen Profi im besten Sinne möchte man in Marburg öfter genießen.


Dem Publikum der restlos ausverkauften Bühne am Schwanhof gefiel die Inszenierung ausgezeichnet. Fünfmal durften die Schauspieler zum Schlussapplaus herauskommen und freudestrahlend ihre Premiere feiern.

Weitere zwölf Aufführungen der "Diebskomödie" sind in dieser Spielzeit geplant

Jürgen Neitzel


Erschienen am 27.10.2013 in der Gießener Allgemeine

Hier jagt jeder jeden: »Der Biberpelz« in Marburg

Die Inszenierung von Marc Wortel profitiert von der starken schauspielerischen Leistung Christine Reinhardts als Wäscherin Frau Wolff.


Dass sich Regisseur Marc Wortel bei seiner Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Diebskomödie »Der Biberpelz« weit von einer konventionellen naturalistischen Deutung entfernt, lässt schon die Bühne erahnen. Ausstatter Donald Becker verdeutlicht durch eine riesige weiße Zielscheibe: Hier jagt fast jeder jeden. In die Jagdmotivik fügt sich der überdimensionale Waschbär mit weiterer Schießscheibe ein.

Bei der ausverkauften Premiere des Hessischen Landestheaters Marburg dürfte das Publikum vor allem die markante Charakterisierung der Figuren beeindruckt haben. Im Zentrum steht die Wäscherin Frau Wolff (Christine Reinhardt). Sie hat in der Familie das Sagen. Gegen ihre dominante Art kann sich ihr Mann Julius (Jürgen H. Keuchel) kaum behaupten; zuweilen wirkt er wie ein alternder Schwächling. Frau Wolff ist stets im Bilde, was vor Ort passiert und beteiligt sich rege an der Tratscherei.

Die auffallende, meist weiße Maske unterstreicht die Wesenszüge der Figuren. Der Sohn der Wolffs etwa, Leon (Ogün Derendeli), mutet mit seinem bauchigen, ebenfalls weißen Kostüm wie eine skurrile Mischung aus Kinderseriendarsteller und Marsmensch an. Er ist von der Arbeit beim Rentier Krüger (Thomas Streibig) überfordert und träumt voller Frust von einem Leben in der Metropole Berlin.

Besonders prägen sich die Motes-Brüder (Tobias M. Walter und Johannes Hubert) mit ihren hoch gegelten Haaren und der Augenbinde ein. Sie informieren den Amtsvorsteher Baron von Wehrhahn (Sebastian Muskalla) über die sozialdemokratischen Aktivitäten des Gelehrten Doktor Fleischer.

In der 1893 uraufgeführten Komödie haben die meisten Figuren einen Hang zum Denunzieren. Am schlimmsten scheint Amtsschreiber Glasenapp (Derendeli), der an einen Stasi-Spitzel der übelsten Sorte erinnert. Demgegenüber erweist sich Amtsdiener Mitteldorf (Fabian Baumgarten) als Duckmäuser, zu brav für diese Welt.

Krüger will Anzeige beim Amtsvorsteher erstatten, da ihm Brennholz gestohlen wurde. Als anständiger Typ vermeidet er es, jemanden vorschnell zu verdächtigen und wird vom Baron, der vor Vorurteilen nicht zurückscheut, kurzerhand abgewiesen. Den Konflikt zwischen den beiden kontrastierenden Figuren arbeitet der Regisseur auf spannende Weise heraus.

Die Aufführung profitiert sehr von der starken schauspielerischen Leistung Reinhardts. Sie zeigt die Wäscherin als gewiefte Frau, die sich mit ihrem bescheidenen Einkommen kaum begnügt, jede Chance ergreift, an Geld zu gelangen. Gerade Wolffs Meisterschaft im Heucheln und Mitleiderregen bringt Reinhardt virtuos zur Geltung. Perfekte Wandlungskünstler verkörpern Walter und Hubert, sie verleihen den Motes-Brüdern mal dreiste, dann scheinheilige Ausstrahlung, wenn sie gekonnt den Tonfall Geistlicher imitieren. Derendeli spielt den übersensiblen Sohn gleichermaßen überzeugend wie den pflichtbewussten Amtsschreiber. Mit seiner coolen Art lässt Thomas Huth den breitbeinigen Schiffer als Vertreter jugendlicher Protestkultur erscheinen, während Julia Glasewald die kecken Züge der Wäscherstochter auf den Punkt bringt. Fast der einzige moralischen Prinzipien verpflichtete Mensch ist Krüger, dies bringt Streibig authentisch zur Geltung. Angesichts dieser kranken Gesellschaft verwundert es wenig, dass der Amtsdiener verrückt wird.

Sascha Jouini

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