Marburg. „Wir müssen jetzt alle ganz schnell hier raus!”, ruft Annette Müller alias Berti Bartolotti den kleinen und großen Zuschauern zu. Und tatsächlich - die Black Box wird geräumt. Im Foyer steuert das Stück auf sein turbulentes Ende samt Verfolgungsjagd und PuddingSchlacht zu.
Die für Kinder ab acht Jahren geeignete Inszenierung von Marc Wortel hat jedoch nicht nur Action zu bieten. Sie ist eine gelungene Umsetzung des Kinderbuchs von Christine Nöstlinger um ein Kind aus der Konservenbüchse. Das erschien zwar erstmals in den 70-ern, Nöstlingers Kritik an den überwältigenden Anforderungen, die manche Eltern an ihre Kinder stellen, ist jedoch so aktuell wie damals.
Denn die Eltern verhalten sich alles andere als mütterlich und väterlich: Berti hat zum Essen nur Tintenfischpüree aus der Mikrowelle anzubieten und lebt lieber ihre Nonkonformität aus, als sich um ihren Sohn zu kümmern. Egon dagegen macht sich übergroße Sorgen um Konrads Bildung, gesunde Ernährung sowie gutes Benehmen und vergisst dabei, die Gefühle seines Pflegekindes ernst zu nehmen.
Beide erdrücken Konrad mit ihren Wünschen und Vorstellungen, statt ihn so anzunehmen, wie er ist. Noch schlimmer, das Elternpaar verstrickt sich immer mehr in Streitereien über die richtige Erziehung und kindische Machtkämpfe: Was soll Konrad essen? Was für Kleidung soll er tragen? Wer besorgt die größere Schultüte?
Für das Gelingen der Inszenierung verantwortlich sind vor allem die Darsteller: Artur Molin spielt grandios den überfürsorglichen Helikoptervater, der tugend- und bildungsbeflissen um seinen Filius kreist, während Annette Müller die überdrehte und zuweilen wenig einfühlsame anti-autoritäre Diva gibt. Vor allem aber Patrick Michel als Retortensohn Konrad, den er zwischen Pinocchio und dem Androiden Data aus Star Trek ansiedelt, überzeugt auf ganzer Linie. Wie er vor lauter untertäniger Beflissenheit fast vornüberfällt, das ist grandios komisch.
Aber auch das Regie-Team um Marc Wortel hat ganze Arbeit geleistet. Die Taue, die von der Decke der Black Box baumeln, dienen unterschiedlichsten Zwecken: als Lichtschalter, Telefon oder zum Anschalten der Seifenblasenmaschine. Zusammen mit einer großen Schaukel lassen sie den Bühnenraum wie einen Kinderspielplatz wirken und verschaffen den Darstellern variable Spielmöglichkeiten (Bühne: Marc Wortel, Marcel Franken).
Für turbulente Action sorgt aber vor allem der Einfall, den Theaterraum auf das Foyer und den Vorplatz auszuweiten. So dürfte auch den jüngeren Zuschauern bis zum Schluss nicht langweilig werden.
Die Kostüme von Renske Kraakman wiederum sind unübersehbarer Ausdruck der Persönlichkeit der jeweiligen Figur. So wird Konrad weiß geschminkt, mit weißen Kontaktlinsen und im weißen Matrosenkostüm geliefert. Je mehr er sich zu einem autonomen Individuum entwickelt, desto bunter wird er, die Kontaktlinsen verschwinden.
Kleine und große Zuschauer haben diese Verwandlung über 75 Minuten verfolgt und bedankten sich mit lang anhaltendem Applaus.
Vera Zimmermann
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